Teilzeit funktioniert – schon lange

Teilzeit funktioniert – schon lange

Ich höre oft, es hänge von den geleisteten Stellenprozenten ab, welchen Job man bekommt, ob man Karriere machen kann, wie gut ein Team funktioniert und wie leicht oder schwierig es ist, die Arbeit zu organisieren und zu koordinieren.

 

Ich bin nicht einverstanden

Stellenprozente haben mit Leistung, Karriere und Koordination so viel zu tun wie ein Kugelschreiber mit Gemüse. Sinnloser Vergleich? Genau, es ist absolut sinnlos, Teilzeitarbeit als Ursache für Probleme in den Bereichen Leistung, Koordination oder Karriere hinzustellen. Das eine hat nichts mit dem anderen zu tun. Ob jemand die erwarteten Leistungen erbringt, die Arbeit und die Termine mit Teamkolleginnen und -kollegen koordinieren kann oder geeignet und gewillt ist, eine Kaderposition zu übernehmen, hängt sogar ganz zuletzt von den geleisteten Stellenprozenten ab.

 

Teilzeit-Weltmeisterinnen und -Weltmeister

Nicht nur Vorgesetzte, sondern auch viele Arbeitnehmende haben eine sehr kritische Einstellung zum Thema Teilzeitstellen. Warum denn nur? Wir sind doch bereits alle Teilzeit-Weltmeisterinnen und ‑Weltmeister, weil wir in unserem Leben so viele unterschiedliche Rollen und Haltungen einnehmen. Und viele davon haben nichts mit unserem Beruf oder unserer beruflichen Tätigkeit zu tun. Wir sind Tochter oder Sohn, Mutter, Vater, Schwester, Bruder, Ehefrau, Ehemann, Grosseltern, Karrierefrau oder ‑mann, gleichzeitig Arbeitskollegin oder ‑kollege, wir sind Lehrende und Lernende, wir sind Unterstützende und manchmal müssen wir uns unterstützen lassen. All das wird jeden Tag gelebt, warum bitte sollte denn das im Arbeitsalltag nicht auch funktionieren?

 

Warum das Thema «Teilzeit oder nicht» gar keins sein muss

Damit die Zusammenarbeit mit Teilzeitarbeitenden funktioniert, gibt es meiner Meinung nach drei Voraussetzungen:

  1. Mitarbeitende müssen für ihren Job brennen, dann sind sie produktiv und leisten gleichzeitig einen wichtigen Beitrag zum Teamspirit – egal, wie viele Stellenprozente sie arbeiten.
  2. Ein Team von Teilzeitern weiss die Flexibilität der Arbeitgeberin oder des Arbeitgebers zu schätzen. Entsprechend organisiert es sich grossteils auch selbständig. Damit ist sichergestellt, dass die Leistungen während der Arbeitswoche erbracht werden, auch wenn die eine Mitarbeiterin ihr Kind schon um 16.30 Uhr aus der Krippe holen muss, jemand krank oder in den Ferien ist oder spontan frei nehmen will. Dazu gehört auch, dass die üblichen Frei-Tage der Teilzeitbeschäftigten so untereinander abgesprochen sind, dass alle auf ihre Kosten kommen.
  3. Vorgesetzte und Firmeninhaberinnen und ‑inhaber profitieren ebenfalls von Teilzeit, wenn sie flexibel an die aktuelle Lebenssituation angepasst werden kann. Ich war die ersten zehn Jahre nach der Agenturgründung 100 Prozent tätig (OK, manchmal auch 120 Prozent), als die Kinder kamen, habe ich – je nach Bedarf – 40 bis 80 Prozent gearbeitet. Und jetzt, im vierten Viertel meiner Erwerbstätigkeit, bin ich nicht nur bereit zu delegieren, sondern auch versiert darin. Damit ermögliche ich potenziellen Nachfolgerinnen, stetig mehr Verantwortung zu übernehmen und eigene Erfahrungen zu sammeln.

 

Erfolgreich mit Teilzeit seit 34 Jahren

Wir haben mit dieser Haltung seit der Agenturgründung 1988 einige Mutterschaftsurlaube, Ausfalltage aufgrund mehrjähriger Weiterbildungen oder unbezahlte Urlaube und Krankheitsausfälle erfolgreich überbrückt. Es war und ist nicht immer leicht, besonders für uns als Kleinunternehmen, weil sich die Arbeit auf wenige Köpfe verteilt. Da aber mehr als die Hälfte der aktuellen Crew zwischen fünf und fünfzehn Jahre bei uns beschäftigt ist, gehe ich davon aus, dass wir ziemlich viel richtig gemacht haben. Gleichzeitig bestätigt mir diese Erfahrung, dass der Wunsch nach Teilzeitarbeit nicht erst in den letzten paar Jahren durch die Forderungen der viel gerügten Generation Z aufgekommen und damit eben kein neues Phänomen ist. Naheliegender ist wohl, dass wir Menschen meist mehrere Anläufe benötigen, um uns an etwas Neues zu gewöhnen.

Wenn ich mich selbst beobachte, sehe ich bei fast all meinen Widerständen, dass sie immer zwei Wurzeln haben:

  1. Was ich nicht kenne, mag ich nicht, also lasse ich mich auch gar nicht erst im Detail auf den Widerstand ein, um herauszufinden, was mir denn eigentlich nicht gefällt oder Angst macht.
  2. Wenn jemand etwas einfach tut, was ich eigentlich auch schon lange so leben möchte, löst das manchmal schlichtweg Neid aus, den ich mir aber nicht erlaube, als solchen wahrzunehmen. Im Gegenteil: ich finde immer wieder neue Argumente, um zu erklären, warum es sich entweder um eine Ausnahmeerscheinung handelt oder bei mir bzw. in unserem Unternehmen nicht funktionieren wird.

 

Höchste Zeit, die Perspektive zu ändern

Der Ruf nach reduzierten Stellenprozenten ist kein egoistischer. Es ist ein Ruf nach Lebensqualität, der die berufliche Leistung sogar optimieren und Berufs- und Privatleben auf eine gesunde und für alle Beteiligten zufriedenstellende Weise beleben kann. Dass dies keine Tagträume sind, zeigt die zunehmende Zahl von gut funktionierenden Teilzeitmodellen in verschiedensten Unternehmen. Viele davon zeigen auch auf, dass sogar Kaderpositionen im Jobsharing sehr wohl möglich sind. Noch mehr Freude würde diese Entwicklung bereiten, wenn die Politik sich nicht mit strafender Hand in diese erfreuliche Bewegung einmischen würde.

 

Flexibilität setzt Menschenkenntnis und Neugier voraus

Gemäss einer SwissLife-Studie von 2019 wünschen sich 96 Prozent der arbeitstätigen Mütter eine Teilzeitstelle. Tatsächlich arbeiten nur 51 Prozent mit reduzierten Stellenprozenten. Bei den Vätern sind es 87 Prozent, die sich eine Teilzeitstelle wünschen, aber nur 19 Prozent, die tatsächlich eine haben. Es gibt bestimmt viele Gründe, warum Unternehmen auch heute noch lieber auf gut ausgebildete und motivierte Fachleute verzichten, nur weil sie nicht 100 Stellenprozent arbeiten wollen. Ich muss ja nicht alles nachvollziehen können. Was ich aber weiss, ist, dass Flexibilität Menschenkenntnis und Neugier voraussetzt. Vorab die Menschenkenntnis, die dabei hilft, zu erkennen, wenn man die passende Mitarbeiterin oder den geeigneten Mitarbeiter vor sich hat, gepaart mit der Neugier, etwas auszuprobieren, obwohl man es noch nie gemacht hat.

 

Die heutige Arbeitswelt ist in Veränderung – technologisch, aber auch menschlich. Junge Menschen tragen mit ihren Ideen, Träumen und Vorstellungen von einem erfüllten Arbeitsleben viel dazu bei, dass es nicht immer nur um mehr, höher und weiter geht, sondern vor allem auch um Sinn, Motivation und Freude, an dem was man tut und wie man den Arbeitsalltag miteinander verbringt.

 

Yvonne Obrecht

 

PS: Zwei Einschränkungen gibt es, aber die erwähne ich hier nur, damit mir diese nicht gleich als Gegenargument zurückgeschickt werden:

  • Teilzeitmitarbeitende – und dazu gehören in der Werbebranche auch die Freelancer –, die den Job lediglich als Broterwerb ansehen, um damit ihr persönliches Herzensprojekt zu finanzieren, werden logischerweise kaum überdurchschnittliches Engagement zeigen. Um das zu vermeiden, weise ich auf den Abschnitt «Menschenkenntnis und Neugier» hin.
  • Teilzeitarbeit wird als Risiko eingeschätzt, weil die Kundschaft erwartet, dass Ansprechpersonen permanent zur Verfügung stehen. Unsere Erfahrung ist auch da eine andere: Kunden lernen schnell, dass Frau Meier nur Dienstag bis Donnerstag arbeitet, und sie wissen, dass sie sich darauf verlassen können, auch am Montag und am Freitag informierte und motivierte Mitarbeitende zur Verfügung zu haben.

 

Studie Teilzeitarbeit: https://www.swisslife.ch/de/ueber-uns/engagement/studien/teilzeitarbeit.html

Teilzeit funktioniert – schon lange