Spagat

Spagat

Hin und wieder gerate ich in eine Identitätskrise und bin geneigt, mich zwecks Selbstfindung samt Schweigegelübde für ein paar Monate in ein Kloster zurückzuziehen. Was bin ich eigentlich, Manager oder Künstler? Auf meinem etwas in die Jahre gekommenen eidgenössischen Diplom steht «Diplomierter Werbeleiter», auf der Anerkennungsurkunde der Schweizer Werbewirtschaft bin ich «Kommunikationsfachmann» und meine jüngeren Berufskollegen nennen sich «Kommunikationsleiter». Grafikerinnen können schöner zeichnen, Betriebswirtschafter genauer rechnen, Projektmanager besser mit Terminen umgehen und Sekretärinnen schneller tippen. Wozu braucht die Welt einen wie mich?

Auf Augenhöhe

So nebenbei bin ich natürlich auch Unternehmer. Meine diesbezügliche Erfahrung ist bei Gesprächen mit Führungskräften hilfreich, vor allem wenn es darum geht, ein Problem ganzheitlich anzugehen. Denn nicht immer, wenn man die Werbeagentur ruft, liegt das Kernproblem und somit die Lösung tatsächlich im Bereich der Unternehmenskommunikation. In diesen Fällen erlaube ich mir, eine Vorgabe zu hinterfragen oder eine unangenehme Frage zu stellen. Meine Gesprächspartner sollen merken, dass ich nicht nur befugt, sondern auch gewillt bin zu entscheiden. In meiner Rolle als Agenturchef und Unternehmer halte ich mich auch an den Kleiderkodex: Anzug und Krawatte.

Kreativer Spinner

Erscheine ich in Jeans und T-Shirt, fühle ich mich als Mann der tausend Ideen. Ich kann mit Worten spielen, alles verdrehen und verwandeln, im Kopf neue Bilder entstehen lassen und unverschämte Strategien formulieren. In dieser Rolle ist es mir egal, wie ich wahrgenommen werde. Mein Geist badet im Pool der Ideen und ich geniesse es, jede gute Idee durch eine noch bessere zu übertreffen. Ich fühle mich dabei wie ein Derwisch im Rausch seiner Pirouetten. In diesem Schöpfungsakt lasse ich mich weder von unzureichenden Budgets noch von Corporate Design-Manuals einschränken. Reduzieren und realisieren kommt später; das können andere Leute auch. Ich will in diesem Moment nur die Welt neu erschaffen.

Gegensätze

In «GDI Impuls», einer Publikation des Gottlieb Duttweiler Instituts, las ich kürzlich folgende Aussage: «Manager entspannen sich, wenn die Routine einkehrt. Künstler hingegen streben dann sofort nach einem Bruch.» Nach dieser Definition bin ich wohl eher in der Kategorie Künstler zu Hause. Und doch bin ich für einen Künstler vielleicht eine Spur zu sehr Realist und eine Spur zu wenig Idealist. Jedenfalls möchte ich meine Projekte nicht nur in die Welt setzen, sondern auch wachsen sehen, sie durch die Realisationsphase begleiten. Kreativität nach dem Prinzip «l’art pour l’art» liegt mir nicht. Was ich mache, muss nachvollziehbar zielgerichtet sein und dazu beitragen, die unternehmerischen Ansprüche der Kunden zu erfüllen.

Brückenfunktion

Kein eindeutiger Künstler, kein Vollblutmanager. Was dann? Ich bin der, mit dem der Manager über Kostendeckungsbeiträge diskutiert und mit dem der Designer die perfekte Ästhetik sucht. Ich bin der, der mit dem Regisseur eine Dramaturgie entwickelt, der dem Texter das Wesentliche erklärt und der mit dem Mediaspezialist die Kontaktqualität untersucht. Ich bin einfach der, der zuhören und interpretieren kann. Ich schlage die Brücke zwischen verschiedenen Disziplinen, bin Übersetzer und Mediator zwischen den Fachkulturen und definiere das gemeinsame Ziel.

In einer Welt, in der sich immer mehr Spezialisten in immer kleineren Nischen perfektionieren, braucht es jemanden, der alle Teile wieder zu einem Ganzen zusammenfügt. Nur dann gibt es nach getaner Arbeit das, was der Kunde möchte: erfolgreiche Werbung!

 

Fredy Obrecht

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