Liebe LeserInnen, Leser/-innen, Leser(innen) und Leser (m/w)

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Liebe LeserInnen, Leser/-innen, Leser(innen) und Leser (m/w)

Der feministischen Linguistik haben wir ein Problem zu verdanken, das unsere Vorväter und Vormütter nicht gekannt haben. Damals durfte man einfach «Ärzte» schreiben und die Leserinnen und -aussen wussten, dass damit medizinisches Fachpersonal gemeint war, unabhängig vom Geschlecht. Im Gegensatz zu den statischen Regeln der Mathematik ist die Sprache aber etwas Lebendiges, das sich unter dem Einfluss unserer Alltagskultur ständig verändert. Wörter verschwinden, neue kommen hinzu. Zum Beispiel war in meiner Jugend der «Bandsalat» ein allgegenwärtiges Problem – ein Begriff, mit dem die heutige iPod-Generation gar nichts mehr anfangen kann.

Das klassische Rollenverständnis von Mann und Frau hat längst ausgedient. Heutzutage ist es gang und gäbe, dass wir unsere Töchter zu emanzipierten Menschen erziehen und Nähen, Kochen und Säuglingspflege nicht nur weibliche Kompetenzen sind. Logisch, dass sich diese bedeutende Veränderung in der Gesellschaft auch auf die Sprache auswirkt. Nur haben es die Deutsch-Gurus, die im Rat für deutsche Rechtschreibung sitzen, leider versäumt, zusammen mit der neuen deutschen Rechtschreibung auch Regeln für Macho-freie und Feministinnen-konforme Schreibweisen zu erlassen. (Oder habe ich da was verpasst?) Der Bund, die Erziehungsdirektionen und zahlreiche weitere Organisationen formulieren eigene Sprachregelungen, die nicht mit denjenigen im Duden übereinstimmen. Das Ergebnis ist ein Wildwuchs verschiedenster Paarformen und Sparschreibungen. Für jemanden, der die Sprache liebt, ein höchst unbefriedigender Zustand.

Test

Machen wir doch einen kleinen Test. Welche der Schreibweisen erachten Sie unter den unten aufgeführten Möglichkeiten als richtig:

  • Frau Doktor | Doktorin | Doktora
  • Mitglieder | Mitglieder/in | Mitgliederinnen und Mitglieder
  • Anwenderfreundlich | AnwenderInnenfreundlich | Anwendungsfreundlich
  • LehrerInnen | Lehrer/innen | Lehrkräfte | Lehrer- und Lehrerinnen
  • Nationalmannschaft Frauen | Nationalfrauschaft | Nationalteam der Frauen
  • ExpertInnen | Experten/innen | Expertinnen und Experten

Eine rätselhafte Geschichte:

Sohn und Vater erleiden einen schweren Autounfall. Der Vater stirbt noch an der Unfallstelle. Der Sohn kommt schwer verletzt ins Spital und muss sofort operiert werden. Die Fachkraft für Notfallmedizin lehnt die Operation des Patienten mit der Begründung «Das ist mein Sohn» ab. Wie geht das? (Auflösungen am Schluss)

Was Frauen wollen

Werbetexter und -texterinnen sind sowieso die «Enfants terribles» der Sprache. Wenn es hilft, die Botschaft auf den Punkt zu bringen und Aufmerksamkeit zu erzeugen, sind wir bereit, gegen jede Regel zu verstossen. Wenn aber weibliche Zielgruppen erreicht werden sollen, müssen auch linguistische Hasardeure eine Sprache verwenden, die bei den Empfängerinnen der geschriebenen Botschaften gut ankommt. Dazu brauchen wir keine Fachleute für Gleichstellungsfragen. Anstand und gesunder Menschenverstand reichen. Zugegeben, es ist nicht immer einfach, die beste Lösung für eine Paarformel oder eine geschlechtsneutrale Schreibweise zu finden. Aber da in der Schweiz etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung weiblich ist, sollte man den Aufwand in die korrekte Schreibweise nicht scheuen.

Tohuwabohu

Im Alltag findet man die verschiedensten Schreibweisen: Einwohner/-innen, EinwohnerInnen, Einwohner(innen) oder Einwohner (m/w) – und das sind nur einige Beispiele. Während der Leitfaden der Bundesverwaltung verschiedenste Varianten zulässt, sind gemäss Duden nur «Einwohner/-innen» und «Einwohner(innen)» korrekt. Aussprechen lässt sich weder das eine noch das andere. Dabei ist eine Regel, die in meinen Augen Sinn macht und die ich beherzige, dass man alles, was man schreibt, auch genau so aussprechen können soll. Oder würden Sie Ihre Rede beginnen mit «Liebe Mitarbeiter-Schrägstrich-innen» oder einer hörbaren Pause zwischen -arbeiter und  -innen? Die schlimmste aller Varianten ist die Präambel «Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten für beide Geschlechter». Kann man wirklich die Lesbarkeit oder Verständlichkeit oder die Länge eines Textes als Grund anführen, nur die Männer oder nur die Frauen direkt anzusprechen?

Eine Ausnahme soll es allerdings geben: In Formularen und ähnlichen stark strukturierten Texten ist die Schreibweise mit Schrägstrich sinnvoll. Beispiel: «Schüler/-in». Aber auch diese Ausnahme beinhaltet wieder eigene Ausnahmen: «Köch/-in» geht nicht, weil «Köch» ohne das «-in» kein korrektes Wort ergibt. Wohl oder übel muss hier «Koch/Köchin» ins Formular gequetscht werden. Die Schreibweise mit einem Grossbuchstaben wie in «SchülerIn» ist in jedem Fall problematisch, weil das grosse «i» auch als kleines «L» gelesen werden kann.

Kompromisse

Das schwierigste Problem, das ich diesbezüglich je zu lösen hatte, war die Bezeichnung des VSAO. Der «Verband Schweizerischer Assistenz- und Oberärzte» sollte geschlechtsneutral umformuliert werden. Welche Lösung hätten Sie an meiner Stelle vorgeschlagen? Meine Idee, die Organisation in «Verband angestellter Ärztinnen und Ärzte» umzubenennen, fand kein Gehör. Heute heisst der VSAO «Verband Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte». Diese Schreibweise ist zwar korrekt, aber mit zwei «und» und zwei Bindestrichen in nur sieben Worten fast nicht auszusprechen.

Der Hauptmann und seine Hauptfrau

Wann immer möglich, ist eine geschlechtsneutrale Bezeichnung zu wählen, auch wenn Redewendungen wie «Die Kundschaft ist König» noch etwas gewöhnungsbedürftig sind. Die Bezeichnung «der Lieferant» ist ebenfalls nicht geschlechtsneutral, besser wäre «die Lieferfirma». Die Schriftgelehrten wenden allerdings ein, dass diese Schreibweise den Bezug versachlicht, was nicht immer sinnvoll ist. Ein Beispiel: «Der Nationalrat» ist ein Gremium, eine politische Instanz, während «die Nationalrätinnen und -räte» eine Gruppe von Frauen und Männern sind. Die geschlechtsneutrale Version verfälscht somit die Aussage des Textes. Man kann aber auch übers Ziel hinausschiessen: Es gibt weder eine «Kindin» noch «Mitgliederinnen», denn sachliche Bezeichnungen haben, wie es das Wort sachlich schon sagt, kein Geschlecht. Bei Doppelbezeichnungen wie «Kundinnen und Kunden» ist nicht zwingend die weibliche Form voranzustellen. Wichtig ist nur, dass in einem Text immer die gleiche Reihenfolge verwendet wird.

Der Vollständigkeit halber muss auch noch das Militär erwähnt werden. Schliesslich ist dort alles bis aufs Kleinste geregelt. Also, ein weiblicher Soldat ist eine Soldatin und ein weiblicher Hauptmann ist … ein Hauptmann. Die Begründung: Hauptmann ist ein militärischer Grad und damit nicht geschlechtsspezifisch. Frauen sind als Frau Hauptmann anzureden und die Mehrzahl des Dienstgrades lautet Hauptleute.

Ich glaube, wir sind erst am Anfang einer bedeutenden Umgestaltung unserer Sprache. Änderungen im Sprachgebrauch sind gewöhnungsbedürftig und brauchen ihre Zeit. Aber das Bewusstsein für diesen Sprachwandel sollte geschärft werden. Entsprechend müssen wir unsere Texte auf diesen Aspekt hin überprüfen und in jedem einzelnen Fall nach der bestmöglichen Lösung suchen.

 

Fredy Obrecht

 

Auflösung Test:
Unter den vorgeschlagenen Varianten sind nach Duden folgende korrekt:
Doktorin  |  Mitglieder  |  Anwenderfreundlich  |  Lehrkräfte  |  Nationalteam der Frauen  |  Expertinnen und Experten

Auflösung Rätselgeschichte:
Die Fachkraft für Notfallmedizin ist weiblich und die Mutter des Patienten.

Liebe LeserInnen, Leser/-innen, Leser(innen) und Leser (m/w)