Das bewusste Geschäftsjahr

Das bewusste Geschäftsjahr

Unser Geschäftsjahr beginnt am 1. Juli und endet am 30. Juni. So bewusst wie die vergangenen 12 Monate habe ich in den letzten 33 Jahren unserer Geschäftstätigkeit wohl nur unser Startjahr erlebt. Das Agenturjahr ist üblicherweise geprägt und strukturiert von Kundenprojekten, über die man sich freut und die man mit Elan angeht. Dämpfer gibt es in Form von Aufträgen, die nicht aus der Korrektur- und Überarbeitungsphase herauskommen oder unterwegs plötzlich in den Standby-Modus verabschiedet werden. Und etwas Pfeffer in den Agenturalltag streuen Expressaufträge, die die gesamte Wochenplanung auf den Kopf stellen. Business as usual also.

Ganz anders im seit heute abgeschlossenen Geschäftsjahr. Es war geprägt von halbleeren Büros, fehlenden Spontangesprächen, echogestörten Zoom-Sitzungen und Schwierigkeiten beim Interpretieren der Mimik in der oberen Gesichtshälfte des Gegenübers vor der Kaffeemaschine. Die bis in den Lift desinfektionsgeschwängerte Büroluft vermochte zumindest den monatlichen Formularkrieg zur Entschädigung der Arbeit – die nicht kürzer (woher kommt denn dieser Begriff eigentlich), sondern stetig weniger wurde – etwas zu betäuben.

Wie geht es mir?
Ideen entwickeln, Projekte planen, Inserate-Erscheinungen kontrollieren, Gut zum Druck freigeben, Mitarbeitergespräche führen, Back-up sicherstellen, Zahlungen ausführen, Rechnungen schreiben, Mehrwertsteuerabrechnung erstellen, Zwischenabschluss prüfen, nicht vergessen, zwischendurch Pause zu machen, und auch mal wieder eine Weile am Stehpult arbeiten statt im Sitzen … Wo bleibt da Raum für mich? Viele werden sich jetzt sagen, dass beim Arbeiten der Raum eben zum Arbeiten zu nutzen sei. Raum für sich selbst gebe es ja in der Freizeit. Aber wie war das jetzt in den vergangenen, von Corona geprägten Monaten? Da war plötzlich viel Raum, weil viel weniger Arbeit die Konzentration forderte. Fällt der Konzentrationsvorhang, dann tut sich ein anderer Raum auf, der Raum des Seins, des Bewusst-Seins. Und auf einmal breiten sich ungefragt und ungebeten Fragen und Ideen aus, die nicht nur mit dem Arbeiten in Verbindung stehen. Definiere ich mich über meine Arbeit? Bin ich glücklich mit meinen Aufgaben am Arbeitsplatz? Kann man am Arbeitsplatz überhaupt glücklich und ganz sein, wenn nur das Arbeitstier in mir wach und konzentriert ist? Wie geht es mir eigentlich?

Ich entscheide
Entscheiden sei einfach für mich als Unternehmerin, höre ich oft. Nun, einfach daran ist nur, dass ich es kann, und das liegt in der Natur meiner Position. Liegt es aber auch in meiner ureigenen Natur als Mensch? Entscheidungen als Geschäftsleiterin zu treffen, ist mir in den vergangenen 33 Jahren natürlich in Fleisch und Blut übergegangen. Ich entscheide anhand klarer Fakten und Annahmen, die ich aufgrund meiner Erfahrung treffe. Entscheidungen zu treffen als Mensch, ist gerade in emotionalen Situationen eine ganz andere Sache. So gebe ich unumwunden zu, dass ich mich als Mensch im März 2020 sehr schwer damit getan habe, eine Kündigung auszusprechen. Es lag keine Leistungsschwäche vor, keine Unzuverlässigkeit, keine Überforderung oder sonst irgendwelche Fakten in Zusammenhang mit der betroffenen Mitarbeiterin, die meinen Entscheid leichter gemacht hätten. Der einzige Fakt war der rasante Einbruch unserer Auftragslage wegen der Coronapandemie und die Gewissheit, dass wir die abgesagten Aufträge später nicht würden nachholen können. Und so blieb mir nur der Entscheid für das Überleben des Unternehmens und damit auch für das Auskommen von sechs Mitarbeitenden. Dieser Entscheid fühlte sich für die Unternehmerin genau richtig an, als Mensch jedoch fühlte ich mich miserabel. Aber ich habe entschieden. Einfach oder nicht.

Dankbarkeit
Die heutige Sicht bestätigt mich darin, dass der Kündigungsentscheid absolut richtig war. In Krisenzeiten gilt es, Kosten zu senken, keine unnötigen Risiken einzugehen und zu hoffen, dass die Reserven und im konkreten Fall der Coronakredit und die Kurzarbeitsentschädigung die Krisenzeit zu überbrücken vermögen. Also habe ich alles richtig gemacht. Warum läuft mir als Mensch denn das ungute Gefühl im Zusammenhang mit dieser Entscheidung so hartnäckig nach? Weil ich als Unternehmerin nicht nur entscheiden kann, sondern in erster Linie muss. Dieses Müssen berührt den Menschen. Was aus meiner Sicht die unangenehmste Seite des Unternehmertums ist, macht mich dennoch dankbar: dass solche Entscheidungen mich als Mensch immer noch berühren, ja eher noch mehr berühren, je älter ich werde. Ich fühle mich verbunden mit meinen Mitarbeitenden. Wir alle sind in erster Linie Menschen und füllen erst an zweiter Stelle Rollen aus als Eltern, Ehepartner/innen, Freunde/innen, Konsumenten/innen oder Angestellte. Deshalb fühle ich von Mensch zu Mensch, auch wenn ich Entscheidungen als Unternehmerin treffen muss.

In erster Linie Mensch
Bei Homeoffice, Abstandsregeln, Masken am Arbeitsplatz und Konfrontation mit unangenehmen Entscheidungen hat der Lebensbereich Arbeit in den letzten Monaten bei Arbeitgebenden wie Arbeitnehmenden Spuren hinterlassen. Spuren, die hoffentlich nicht so schnell verwischen, sondern zum bewussten Gestalten von Zusammenarbeit und Menschsein im Berufsleben führen. Das gilt nicht nur für Unternehmerinnen und Unternehmer gegenüber ihren Mitarbeitenden, sondern genauso auch umgekehrt. Denn auch eine Chefin oder ein Chef ist ein Mensch und erst in zweiter Linie eine Vorgesetzte oder ein Vorgesetzter.

 

Yvonne Obrecht

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