Ich bin Peter Pan

Peter Pan/Narrenhut

Ich bin Peter Pan

Ein guter Werber ist ein bisschen ein Peter Pan, der mit kindlicher Neugier und Unvoreingenommenheit an alles Neue und Unbekannte herangeht. Die Welt ist voller spannender Dinge, die es zu ergründen gilt. Wer die Meinung, die Einstellung und das Verhalten anderer Menschen verändern will, muss sich selbst ein grosses Mass an intellektueller Flexibilität bewahren. Nur so kann er sich in die Denkweise anderer hineinfühlen und bei ihnen das «feu sacré» entzünden.

Als Werber haben wir ein hohes Mass an Narrenfreiheit. Man nimmt uns nicht übel, wenn wir die Fragen stellen, die sich sonst niemand zu fragen wagt. Ein toller Nebeneffekt ist, dass uns Werbern Einblicke in Branchen gewährt werden, die dem Normalbürger verwehrt bleiben. Werber lernen auch einiges über Menschen und ihre Beweggründe. Im Laufe des Berufslebens sammeln sich so viel Wissen und sogar etwas Lebensweisheit an.

Genau darum liebe ich meinen Beruf! Ich weiss, warum erdbewehrte Stützkonstruktionen ökologischer sind als Betonmauern und wieso Glasfasern und hochmodifziertes Bitumen die Strassen langlebiger machen können. Ich habe gelernt, dass der gleiche Stoff, der Baby-Urin in den Windeln aufsaugt, zum Abdichten von Teichen genutzt werden kann. Ich weiss, was Eltern durchmachen, wenn ihr Kind mit einer Behinderung zur Welt kommt und wie man ihnen Beistand leisten kann. Ich habe bereits einen Elektrorollstuhl mit dem Joystick gesteuert und mir ist klar geworden, warum es viel zu gefährlich ist, Menschen mit Behinderung ohne geeignete Sicherung in ihrem Rollstuhl im Auto zu transportieren. Ich kenne Leute, die sich mit viel Professionalität und Engagement darum kümmern, dass auch Jugendliche mit Lernschwierigkeiten zu einer Berufsausbildung kommen und weiss, wie so etwas finanziert wird. Mir ist bekannt, was frei praktizierende Ärzte alles machen müssen, damit ihre Leistungen bezahlt werden und was künftige Inhaberinnen einer Arztpraxis vor der Eröffnung zu berücksichtigen haben. Ich kenne das Geheimnis guter Schokolade und die Gründe für deren zeitintensive Herstellung.

Man hat mir erklärt, wieso Leute süchtig werden und warum mit welchen Therapien in einer Suchtklinik gearbeitet wird. Kürzlich habe ich mich mit der Zukunft von sozialmedizinischen Institutionen beschäftigt und kann jetzt erklären, wieso das klassische Altersheim ein Auslaufmodell ist. Mir ist bekannt, dass Erdöl keine Zukunft hat und ich habe verstanden, dass die nächsten Generationen lernen müssen, ohne fossile Energie zu leben. Man hat mir demonstriert, wie Chirurgen unsere Innereien bei Operationen zusammenkleben, statt sie zusammenzunähen, und worin die Vorteile liegen. Ich wusste bereits vor der Inkraftsetzung der entsprechenden Gesetzesänderung über die «erweiterte Zustimmungslösung» in Sachen Organspende Bescheid und warum es sinnvoll ist – auch wenn man keine Organe spenden will –, einen Spenderausweis bei sich zu tragen und die Angehörigen über seine Wünsche zu informieren. Besorgt bin ich, dass unser Trinkwasser Rückstände von Medikamenten und anderen Stoffen aufweist und niemand eine praktikable Lösung für dieses Problem anbieten kann. Man hat mir vorgerechnet, wie eine gute Pensionskasse in der Verwaltung des Vermögens den Balanceakt zwischen Rendite und Sicherheit schafft und was die Vorteile einer passiven Vermögensverwaltung sind.

Die Liste der Erkenntnisse und Erlebnisse lässt sich schier endlos weiterführen. Dieses Wissen und die vielen Begegnungen mit bemerkenswerten Menschen haben meine eigene Persönlichkeit geprägt. Mittlerweile bin ich dreissig Jahre in der Werbung, doch Neugierde, Wissensdurst und Begeisterungsfähigkeit sind geblieben. Meine Mandate sind in einem gewissen Sinn meine Kinder. Einige sind inzwischen ausgeflogen, andere befinden sich noch heute in meiner Obhut.

Genau deshalb fühle ich mich wie Peter Pan, der niemals erwachsen wird. Ich lebe nicht auf Nimmerland und meine Crew sind nicht die «verlorenen Jungs und Mädchen». Meine Insel heisst Publix und mein Team besteht aus erwachsenen Berufsleuten, die mir ermöglichen, weiterhin alle Aspekte eines anvertrauten Mandates mit kindlicher Neugierde zu erforschen.

 

Fredy Obrecht

Auslaufmodell Werbeagentur?

Auslaufmodell Werbeagentur

Auslaufmodell Werbeagentur?

Im Werbebusiness gibt es keine Nostalgie. Das Heute ist immer schon Vergangenheit, nur das Morgen zählt. Werbeagenturen bekommen keine Direktzahlungen wie Landwirtschaftsbetriebe. Nicht einmal ein moderater Mehrwertsteuersatz wird ihnen gewährt, so wie das beim Gastgewerbe der Fall ist. Kein Wirtschaftsminister wirft seine Stirn in Falten, bloss weil der Werbebranche ein Strukturwandel bevorsteht. Und das ist gut so! Wir Werber sind die Frösche im Biotop des freien Marktes – je naturbelassener die Umgebung, umso wohler fühlen wir uns.

In den vergangenen Jahrzehnten hat die Branche einige grundlegende Veränderungen überlebt. Mit Neuerungen wie Desktop-Publishing, Internet, Digitalfotografie, elektronischer Bildbearbeitung oder Digitaldruck sind technische Hürden und somit Berufe wie Schriftsetzer, Fotoretuscheur oder Lithograf verschwunden. Ein Computer mit Internetanschluss genügt, um weltweit publizieren zu können. Jede Druckerei ist heute gleichzeitig ein Grafikatelier mit Werbeberatung. Jeder Informatiker entwickelt zur Website gleich noch das neue Corporate Design. Reisende Filmcrews aus dem Ausland realisieren an einem einzigen Nachmittag ganze Werbefilme zu Spottpreisen. Ohne Storyboard oder dramaturgischen Spannungsbogen. Als Vorlage reicht die Imagebroschüre. Newsletter, Inserate und Broschüren macht heute die kaufmännische Mitarbeiterin mit «Flair für Gestaltung». Jeder arbeitslose Ex-Banker sieht seine Chance als frei schaffender Unternehmensberater. In Anbetracht dieses Angebotes kann man sich die Full-Service-Werbeagentur getrost sparen. Oder doch nicht?

Wir Werbeagenturen sind gefordert, auf diese Veränderungen zu reagieren. Sollen wir uns eine digitale Druckmaschine anschaffen und es damit den Druckereien, die über den Zaun fressen, heimzahlen? Sollen wir selber ein neues CMS programmieren und Lizenzen verlangen? Die Websites inhouse erstellen und den Werbefilm selber drehen? Oder sollen wir das sinkende Schiff verlassen und umsatteln? Eine Beiz oder eine Weinhandlung eröffnen und durch unseren Eigenkonsum zum Umsatz beitragen?

Zum grossen Teil ist die Werbebranche an der Misere selber schuld. Wir haben es verpasst, unseren potenziellen Auftraggebern zu erklären, was genau unsere Kernkompetenz ist. Aus der Entwicklung der Kommunikationsstrategie und der tragenden Idee entstehen erfolgreiche und aussergewöhnliche Kampagnen. Das braucht Erfahrung, Wissen, Talent und Herzblut. Bis heute gibt es keine Maschine, die Intuition, Empathie und Fantasie produziert. Die Qualität der von den Werbeprofis erbrachten intellektuellen Leistung ist entscheidend. Qualität ist jedoch nichts wert, wenn es niemanden gibt, der sie erkennt und der bereit ist, dafür einen angemessenen Preis zu bezahlen. Wir haben es versäumt, die Kopf- und Herzarbeit als wertvolle, weil wirkungsvolle und dadurch geldwerte Leistung zu deklarieren.

Die unkoordinierte Aufsplittung der Kommunikationsarbeiten auf verschiedene Akteure ist ebenso sinnvoll, wie wenn Sie sich entscheiden, Fremde loszuschicken, um Schuhe, Hose und Hemd für Sie zu kaufen. Sie werden danach zwar angezogen sein, aber kaum gut gekleidet.

Wir Webeagenturen und unsere Berufsverbände sind gefordert, uns im Werbemarkt neu zu positionieren. Gefragt ist eine bewusste Fokussierung auf unsere drei Kernaufgaben: Kommunikation, Kreation und Koordination. Diese (Dienst-)Leistung darf und muss auch etwas kosten.

 

Fredy Obrecht