Delirium furiosum

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Delirium Furiosum

Gelegentlich sieht man den Untergang unserer Zivilisation unaufhaltsam näher kommen. Nicht durch Planetenkonstellationen oder Maya-Kalender – das ist Schnee von gestern –, sondern wegen der Handystrahlung, die unser Gehirn kocht, wegen der hoffnungslos verlorenen Jugend, die dank Facebook vereinsamt und durch Videospiele zu Amokläufern mutiert. Und auch diese vermeintliche Tatsache glauben wir, weil wir sie immer und überall zu lesen und zu hören bekommen. Für mich als Werber ist dabei interessant, dass die Menschen immer noch mehr glauben, als wirklich wissen.

Ich geb’s zu, auch ich verwende in meinen Texten hin und wieder die Geschichte von dem ärztlich attestierten Delirium furiosum. 1835 soll das Obermedizinalkollegium in Bayern vor der Geschwindigkeitskrankheit gewarnt haben, die Passagiere und Betrachter von Eisenbahnzügen angeblich befiel, weil dieses neumodische Transportmittel mit atemberaubenden 30 Stundenkilometern durch die Landschaft raste. Die Leute glaubten dieser Warnung, die eigentlich nur ein grandioses Beispiel für Technikfeindlichkeit ist. Nach meinen Recherchen hat diese Geschichte einen Schönheitsfehler: sie ist frei erfunden. Jedenfalls gab es 1835 in Bayern kein Obermedizinalkollegium. Belegt ist dagegen, dass Hitler die Geschichte in seinem Buch «Mein Kampf» als Beispiel für Technikfeindlichkeit anführte.

Anfang des 20. Jahrhunderts wurde Radium als Wundermittel angepriesen und Kosmetika, Medikamenten und sogar Lebensmitteln beigegeben. Man dachte, dass die von Antoine Henri Becquerel 1896 entdeckten radioaktiven Eigenschaften des Radiums sicher für alles Mögliche gut seien. Noch 1900 machte der Pharmakonzern Bayer Werbung für Heroin als wirkungsvolles Schmerzmittel ohne grosse Nebenwirkungen. Ein weiteres Paradebeispiel für einen peinlichen Irrtum, der durch ständige Wiederholung zur Wahrheit wird, ist das vermeintlich im Spinat reichlich vorhandene Eisen. 1890 bestimmte der Physiologe Gustav von Bunge den Eisengehalt von 100 Gramm Spinat korrekt mit 35 Milligramm. Allerdings untersuchte er getrockneten Spinat, der zehnmal so viel Eisen enthält wie die gleiche Menge des frischen Krautes.

Die Erkenntnis, dass die Erde keine Scheibe ist, hat sich mittlerweile durchgesetzt. Wie ist das aber mit Darwins Evolutionstheorie? Obwohl wissenschaftlich nicht in Frage gestellt, bevorzugen christliche, muslimische und jüdische Kreationisten die Darstellung eines Gottes, der die Welt so geschaffen hat, wie wir sie heute kennen. Wohl auch in der Hoffnung, dass stetige Wiederholung das kreationistische Weltbild zur Wahrheit werden lässt.

Warum glauben Frauen an Faltencremes und Männer an Haarwuchsmittel? Ganz einfach, weil sie daran glauben wollen. Entgegen der verbreiteten Meinung, dass Werbung neue Bedürfnisse schafft, muss sie nur die bereits vorhandenen Wünsche ansprechen: Erfolg, Prestige, Sicherheit und Wohlstand reichen allemal aus, um alles Mögliche an den Konsumenten zu bringen.

Und wenn man Glück hat, das richtige Motiv anspricht und die Aussage lange genug wiederholt, wird auch die Werbebotschaft zur Glaubensbotschaft und damit Teil der neuen Wahrheit.

Denken ist eine Anstrengung, Glauben ein Komfort. Ludwig Marcuse

 

Fredy Obrecht