Ich weiss, dass ich nichts weiss

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Ich weiss, dass ich nichts weiss

Börsengurus, Trendscouts und andere Hellseher leben davon, den potenziellen Kunden glaubhaft zu machen, dass sie mehr wissen als gewöhnlich Sterbliche. Dass sie über geheime Erkenntnisse, einzigartige Erfahrungen und übersinnliche Fähigkeiten verfügen. Zentraler Bestandteil des erfolgreichen Trendpropheten-Marketings ist, etwas zu behaupten, das schwer nachzuweisen ist, sich dafür aber umso spektakulärer anhört. Doch die wahren Weisen sind diejenigen, die nicht Scheinwissen von sich geben, sondern Fragen stellen. «Ich weiss, dass ich nichts weiss» wird Sokrates zugeschrieben. Einstein sagte: «Fantasie ist wichtiger als Wissen!» Und Charles Darwin erkannte: «Die Gewissheit ist mehr eine Geburt der Unwissenheit als der Kenntnis.»

Die Unterschiede zwischen dem Marketing-Rockstar Kjell Nordström und der Sternenkundigen Elizabeth Tessier sind marginal. Beide verkaufen sich als Eigenmarke und schaffen es immer wieder, mit spektakulären Prognosen in den Medien zitiert zu werden. Sollte dann das Ereignis nicht wie vorhergesagt eintreffen, liefern sie keine Erklärungen für ihre Missdeutungen, sondern gleich die nächste, ebenso extravagante Voraussage. Idealerweise zielt die neue Prognose 180 Grad in die andere Richtung. Schön verpackt in Statistiken und Schein-Logik ist das zumindest gut gemachte Unterhaltung und die Leute sind sogar bereit, für Vorträge und Bücher zu bezahlen.

Schon seit Urzeiten hat der Mensch das Bedürfnis zu wissen, was auf ihn zu kommt. Unsere Fähigkeit, aus der Vergangenheit zu lernen und so die Zukunft vorauszuahnen, hat die intellektuelle Entwicklung des Homo sapiens ermöglicht. Doch statt mühsam aus Versuch und Irrtum zu lernen, sucht die Menschheit immer wieder nach einer Abkürzung für den Blick in die Zukunft. Wie schön wäre es doch, einfach ein Orakel oder die Sterne befragen, oder die Linien in der Hand oder den Kaffeesatz deuten zu können. Letztere Möglichkeit entfällt allerdings mit Erfindung der Nespresso-Kapseln …

Als moderne, aufgeklärte Zeitgenossen sind wir natürlich resistent gegen solch okkulte Methoden, die Zukunft zu prophezeien. Schliesslich leben wir in einer Informationsgesellschaft. Alles, was wir wissen wollen, haben wir innert Sekunden auf Wikipedia und Co. recherchiert. Unser Problem ist nicht mehr, an die Informationen zu kommen, sondern aus der riesigen Datenmenge den Schrott herauszufiltern.

Damit ist unsere Welt um einiges komplexer geworden. Und weil wir immer noch Menschen sind, die genau gleich funktionieren wie unsere Vorfahren vor hunderttausend Jahren, haben wir auch heute noch das Bedürfnis, zu vereinfachen. Deshalb suchen wir nach Rezepten, die uns in diesem unübersichtlichen Chaos eine Orientierungshilfe geben.

Einfache Lösungen und Scheinwissen sind jedoch gefährlich. Sie vermitteln uns eine trügerische Sicherheit. Unfehlbare Propheten gibt es nicht. Das wissen alle, die ihrem so erfolgreichen Investmentbanker vertraut haben, als er ihnen Wertpapiere von Leeman Brothers empfahl. Auch einen Facebook-Account eröffnen und bewirtschaften zu können, heisst  noch lange nicht, dass wir wissen, wie soziale Beziehungen und Kommunikation zwischen den Menschen funktionieren.

Wir müssen wieder lernen, kritisch zu hinterfragen. Glauben ist gut, wissen ist besser. Unsere Gesellschaft braucht keine mediengeilen Propheten und Claqueure, sondern Menschen, die genau hinschauen und erkennen, dass der Kaiser gar kein edles Gewand trägt, sondern splitterfasernackt durch die Landschaft marschiert. Und wir brauchen vor allem Menschen, die sich getrauen, diese Tatsachen auch auszusprechen.

 

Fredy Obrecht

 

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