Leidenschaft

Leidenschaft

Kommunikationsfachleute üben ihren Beruf mit viel Leidenschaft aus. Das gilt ganz besonders für die Werber des 21. Jahrhunderts. Früher genügte es, Waschmittel mit dem Attribut «sauber» oder «weiss» zu verbinden, Schokolade mit «süss» und Autos mit «zuverlässig» oder «sicher». Heute braucht es deutlich mehr, als die offensichtlichen oder bekannten Eigenschaften eines Produktes oder einer Dienstleistung zu kommunizieren und endlos zu repetieren. Die meisten Produkteigenschaften sind schlicht langweilig und bieten den potenziellen Konsumenten keine Hilfestellung bei der Qual der Wahl. Mit der stetig zunehmenden Auswahl an Produkten mit identischen Eigenschaften steigern sich die Wortschöpfungen und Anglizismen in der Werbung ins Unermessliche.

Ich zweifle keine Sekunde daran, dass dafür nicht nur Leidenschaft, sondern sogar Inbrunst nötig ist.  Denn ob Wimpern nun mittels Telescopic Explosion auf unnatürliche Länge ausgefahren werden, ob ein bestimmtes Waschpulver sogar von den Waschmaschinen geliebt oder ein Make-up mit Instant Anti-Age angepriesen wird: Diese überspitzten Wortspielereien und zum Teil hochdramatischen Kombinationen von Produktanwendung und -effekt verlangen echte Hingabe und viel, sehr viel Aufwand. Das beeindruckt mich wahrscheinlich am meisten, denn ich bin immer wieder überrascht, wie viel Geld Werbeauftraggeber bereit sind, in unaussprechliche Off-Texte und grotesk übertriebene Ergebnisse der Produkteanwendungen zu investieren – idealerweise noch fantasievoll gepaart mit prominenten Persönlichkeiten. Und das alles nur, um dann einer von vielen in dieser Produktegruppe zu sein. Einer von so vielen, dass die Zielgruppe schon kurz nach dem Spot nicht mehr genau weiss, ob es nun Maybelline, L’Oréal oder Caran d’Ache gewesen ist.

Wie sagte doch der Zukunftsforscher Matthias Horx so treffend: «Viele Produkte entlasten uns nicht, sie nerven. Sie machen unser Leben komplizierter, statt uns kreativer zu machen.» Genau! Zurück zum Ursprung, zurück zur Einfachheit, zurück zur Echtheit. Hochkarätige Produkte (und damit ist nicht nur Schmuck gemeint) lösen echte Leidenschaft aus. Dieses Gefühl muss nur noch in die Kommunikation übernommen werden. Die grosse Kunst dabei ist, das Gefühl so ursprünglich wie möglich zu belassen und darauf zu vertrauen, dass die Zielgruppe das richtige Gespür dafür haben wird.

Insgesamt trauere ich vergangenen Zeiten nicht nach, sehr wohl aber einzelnen, herausragenden Unternehmerpersönlichkeiten, die für Beratung immer sehr empfänglich gewesen sind, nie mit kritischen Fragen gegeizt, dafür aber immer klare Entscheidungen getroffen haben. Und das notabene, ohne sich vorher mit der gesamten Marketing- und Verkaufsabteilung in demokratischer Weichspülmanier zu einigen. Nichts gegen Fakten und Zahlen, nichts gegen Regeln und Erkenntnisse aus Marktdaten und Medienleistungen. Aber alle diese Feststellungen sind nur Grundlagen. Ohne Scharfblick, Bauchgefühl und Enthusiasmus führen sie lediglich zum selben Ergebnis wie bei allen anderen Marktteilnehmern auch.

Darum vermisse ich manchmal den Mut zur Einfachheit. Wann ist diese Kühnheit verloren gegangen? Ist nicht sie es, die es ermöglicht, dass unsere Arbeit den Auftraggebern tatsächlich dabei behilflich ist, Ziele zu erreichen, Veränderungen zu bewirken und sich von der Menge abzuheben? Nun ja, ich bin noch ein wenig zu jung, um schon von den guten alten Zeiten zu schwärmen. Ich bin aber definitiv alt genug, um zu wissen, dass teleskopisch ausfahrbare Wimpern weder Leidenschaft wecken noch einen wirklichen Unterschied machen.

Mit ursprünglichen Grüssen

 

Yvonne Obrecht

 

PS: Falls Sie mit den zunehmenden Anglizismen kämpfen, habe ich noch einen guten Tipp: Vater Staat übersetzt für Sie – konsultieren Sie vertrauensvoll: https://www.bk.admin.ch/bk/de/home/dokumentation/sprachen/hilfsmittel-textredaktion.html