Revolution in vollem Gang
Markt ist, wenn sich mehrere Anbieter im Wettbewerb mit Preis und Leistung um Kunden bemühen. Damit ein Markt entstehen kann, braucht es Markttransparenz. Diese mit den Mitteln der Kommunikation herzustellen, ist eine der Aufgaben des Marketings.
In der klassischen Marketingkommunikation war es bisher so, dass wir Werber entscheiden konnten, wer Zielgruppe ist und über welche Werbemittel diese mit unseren Botschaften in Kontakt kommen soll. Eine gute Mediastrategie zeichnete sich unter anderem dadurch aus, dass sie möglichst wenige Kontakte ausserhalb der Kernzielgruppe, sogenannte Streuverluste, produzierte. Aber eben – das war gestern.
Heute haben wir das Internet und mündige, gut informierte Konsumenten. Nach einer vom Bundesamt für Statistik publizierten Erhebung nutzen mittlerweile über 80% der Bevölkerung in der Schweiz das Internet regelmässig. Die ältere Generation und Frauen im Allgemeinen sind dabei, ihren Rückstand bezüglich Internetnutzung aufzuholen. Hochschulabsolventen und Wohlhabende nutzen das Internet sogar zu über 90%. Fast 70% der Schweizer holen sich im Internet Reiseinformationen. Rund 15% nutzen das Internet zum Kauf von Produkten oder Dienstleistungen. Der Onlineshop der Migros macht bereits einem Umsatz von 150 Mio. Franken. Das sind 15% mehr als im Vorjahr.
Alles wird anders
Das Faszinierende an dieser Entwicklung ist, dass die Zahlen belegen, wie in der Marketingkommunikation alles auf den Kopf gestellt wird. Nicht mehr die Marketingstrategen bestimmen, welche Zielgruppen anvisiert werden – die Konsumenten entscheiden, wo sie sich welche Informationen abholen. Dazu kommt, dass viele dieser Informationen nicht von den Anbietern, sondern von den Kunden selbst ins Internet gestellt werden. Wer Erfahrungsberichte zu einem bestimmten Auto, einem Hotel in einer fremden Stadt oder zu einem Plasma-Fernseher sucht, wird im Internet fündig. Egal, ob diese Kommentare den Anbieter loben oder vernichtend kritisieren, die Informationen können von den Unternehmen kaum kontrolliert werden. Einmal publiziert, bleiben sie wohl für immer im World Wide Web. Noch nie war die Macht der Konsumenten so umfassend.
Trendwende
Einige Branchen, wie zum Beispiel die Reisebranche, bekommen diese Trendwende bereits heute massiv zu spüren. Die Zeiten, in denen man sich im Reisebüro einen Stapel Prospekte zusammenraffte und diese dann zu Hause eingehend studierte, sind vorbei. Wer Lust verspürt, die Sommerferien zu planen, macht dies unabhängig von irgendwelchen Öffnungszeiten. Man checkt die Preise und Verfügbarkeiten der Flüge, liest Reiseberichte von Leuten, die schon dort waren und amüsiert sich über die Kommentare zum Frühstücksbuffet in den Hotels. Mit Google Street View kann man bei dieser Gelegenheit noch virtuell durch die nähere Umgebung des Ferienhotels spazieren. Entdeckt man dabei ein attraktives Restaurant, lässt sich auch gleich die Menükarte studieren. Für all das braucht es kein Reisebüro.
Internetfiliale und Patientenblog
Die Veränderungen im Konsumverhalten verändern auch das Marketinginstrument Distribution. Die lokale Präsenz mit einem Netz von Filialen verliert in vielen Branchen an Bedeutung. Zwar wird man bei einigen Produkten, die man vor dem Kauf gerne mal in die Hand nimmt, ein Fachgeschäft aufsuchen, der Kauf selbst kann dann aber irgendwo abgeschlossen werden.
Auch andere Berufsleute werden zunehmend von der informierten Kundschaft herausgefordert. So bekommen Ärzte immer häufiger von ihren Patienten die im Internet recherchierte Selbstdiagnose vorgelegt. Selbstverständlich in der Erwartung, dass diese vom Fachmann bestätigt wird. Ärzte, die mit diesen Patienten nicht umgehen können, riskieren einen entsprechenden Eintrag in irgendeinem Patientenblog.
Hat Werbung ausgedient?
Als Inhaber einer Werbeagentur muss ich mich jetzt fragen, ob die Marketingkommunikation bald einmal ausgedient hat. Braucht es in Zukunft überhaupt noch Kommunikations- und Mediastrategien? Gehört die Zukunft den E-Commerce-Informatikern? Die Antwort ist einfach und logisch: Unsere Arbeit ist wichtiger denn je. Der Mensch ist ein emotionales Wesen, und das Konsumverhalten ist kein rationaler Vorgang, bei dem objektiv Preis und Leistung verglichen werden.
Markenpräferenzen sind das Ergebnis von Images und diese werden zum grossen Teil von der Marketingkommunikation geformt. Unbekannte Marken und Produkte ohne erkennbare Vorteile werden auch im Internet nicht angeklickt. Lifestyle-Produkte erhalten erst durch Werbung ihre Produktidentität. Koordinierte und über alle Medien konzertierte Werbekampagnen werden an Bedeutung zunehmen. Im Übrigen werden nicht nur Reisebüros einen Zusatznutzen anbieten müssen, um ihre Kunden zurückzuholen. Und dieser Zusatznutzen muss kommuniziert werden. Was sich ebenfalls für uns Werber verändert hat, sind die Instrumente, die wir einsetzen. Die Klaviatur der Werbemittel ist um einige Tasten breiter geworden. Die Zielgruppen sind gut informiert und anspruchsvoll – auch was die Marketingkommunikation anbelangt.
Fredy Obrecht