Diktatur oder Demokratie?

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Diktatur oder Demokratie?

Uns Schweizern wird es bereits mit der Muttermilch eingegeben: Direkte Demokratie geht über alles! Von der Generalversammlung des Chüngelizüchter-Vereins bis zur Abstimmung über Bauvorschriften zu unchristlichen Gebetshäusern – die Mehrheit befiehlt, was gehen soll. Ich bin überzeugt, dass Demokratie in vielen sozialen und politischen Bereichen unserer Gesellschaft ein Segen ist. Wenn in Stuttgart Zigtausend Leute auf die Strasse gehen, um gegen einen neuen Bahnhof zu demonstrieren, so ist das auch das Ergebnis einer fehlenden, direkten Demokratie. Natürlich verlangsamt und behindert die Basisdemokratie die Veränderungsprozesse. Anstelle visionärer, revolutionärer Ideen werden weichgespülte Kompromisse ohne Ecken und Kanten geboren. In der Politik mag man das in Kauf nehmen. Da macht es sicherSinn, eine Idee reifen zu lassen, bevor man milliardenteure Löcher durch den Gotthard bohrt oder einen alten Stadtteil dem Erdboden gleichmacht.

Bei der Feuerwehr, beim Militär, im Marketing und insbesondere in der Werbung ist Demokratie definitiv der falsche Weg. Hier braucht es selbstbewusste Führungsleute, die bereit sind, ihre Vision auch gegen Widerstände durchzusetzen. Kaum jemand wird annehmen, dass ein Unternehmer in der Währung eines Nicolas Hayek eine Mitarbeiterbefragung lancierte, bevor er eine Uhrenfabrik kaufte oder ein neues Produkt auf den Markt brachte. Wer sich weit aus dem Fenster lehnt, läuft natürlich auch Gefahr, das Gleichgewicht zu verlieren und unsanft zu landen. Das ist der Preis des möglichen Erfolges. Niemand hat gesagt, dass der Job als Unternehmer oder Kommunikationsleiter bequem und ungefährlich ist. Als Nelly Wenger 2006 dem Schokoladen-Label Cailler eine neue, vom Architekten Jean Nouvel designte Verpackung verpasste, lancierte sie einen legendären Flop im erfolgsverwöhnten Hause Nestlé. Trotzdem gehört den Nestlé-Managern mein Respekt.

Sie haben sich getraut, alte Zöpfe abzuschneiden, Traditionen zu hinterfragen und die Revolution zu wagen. Was wäre, wenn die Nouvel-Wenger-Verpackung ähnlich den Nespresso-Kapseln ein Erfolg geworden wäre?

Demokratisch legitimierte Werbekampagnen haben einen unangenehmen, nervigen Groove. Man sieht ihnen an, dass sie international getestet und auf Durchschnittsgeschmack zurechtgestutzt worden sind. Das sind Kampagnen, die man getrost vergessen kann. Das einzige, was sie bewegen, ist der Daumen des Zappers auf der TV-Fernbedienung.

Deshalb liebe ich meine unbequemen Auftraggeberinnen und Auftraggeber. Sie wissen, was sie wollen und sie sprudeln vor Ideen. Mit der Aufforderung «Mach was draus!» landen ihre hingekritzelten Gedanken oft ungefiltert und unsortiert zur Bearbeitung auf meinem Schreibtisch. Zwar ist es anschliessend eine Riesenarbeit, die Spreu vom Weizen zu trennen und aus der vagen Vision eine brauchbare Marketing-Idee zu machen. Aber das ist Aktivität pur und jede schräge Idee hat das Potenzial, die Welt zu verändern. Wenn meine Ideen dann aufgrund eines Machtwortes und ohne demokratische Weichspülgänge das Licht der Werbewelt erblicken, weiss ich: Viele meiner Kunden wären auch hervorragende Feuerwehrkommandanten! Genau deshalb gehe ich für sie durchs Feuer.

 

Fredy Obrecht

Empathie

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Empathie

In jeder Kommunikationsstrategie ist ein zentraler Punkt die Zielgruppendefinition. Nach wie vor beliebt, wenn auch nur noch bedingt brauchbar, sind die soziodemografischen Merkmale. Das Problem ist, dass die Zielgruppen sich immer weniger gemäss ihrer Kaufkraftklasse, ihrer Bildung und ihrer Siedlungsart verhalten. Der Arbeiter leistet sich Ferien auf einer Südseeinsel, während sein Chef Familien-Wanderferien bevorzugt und in der Jugendherberge übernachtet. Ein und dieselbe Person verpflegt sich am Mittag mit Fast Food und gönnt sich am Abend ein Gourmetmenü im Spitzenrestaurant. Auch die konsum-, kommunikations- und verhaltensbezogenen Attribute helfen nur bedingt weiter. Erzkonservative Heavy-User von Mineralwasser sind in ihrem Medienkonsum schwer von progressiven Light-Buyern von Süssgetränken zu unterscheiden. Clusteranalysen und Marktsegmentierung liefern zwar eine wertvolle Basis, aber sie sind nicht das Salz in der Suppe.

Stellen Sie sich vor, ein verliebter Jüngling möchte seine Angebetete zu einem ersten Rendezvous einladen. Sicher ist es zur Formulierung und Übermittlung des Angebotes hilfreich zu wissen, in welcher Sprache die Verehrte kommuniziert, in welchem sozialen Umfeld sie aufgewachsen ist und wo sie wohnt. Aber das alleine garantiert den Erfolg des Angebotes nicht. Es braucht Fantasie, Herzblut und den Mut, etwas Aussergewöhnliches und Überraschendes zu wagen, um die Geliebte zu begeistern.

In meiner Funktion als Texter und Konzepter bediene ich mich eines einfachen Tricks: Ich stelle mir keine anonyme Zielgruppenmasse vor, sondern eine einzelne Person, die stellvertretend für die Zielgruppe die wichtigsten Attribute auf sich vereint. Ich stelle mir möglichst konkret vor, in welcher Situation meine Botschaft bei dieser Person eintrifft. Zum Beispiel, wie sie sich fühlt, wenn sie «meinen Brief» öffnet. Ist sie gestresst und hektisch, so ist es eher besser, die Botschaft stark emotional, aber hochkonzentriert zu präsentieren. Ist sie aber gelangweilt, so durchbreche ich die Eintönigkeit mit Provokation und Überraschung.

Die wichtigste Grundlage, um meiner Zielgruppenperson einen erfolgreichen «Liebesbrief» zu schreiben, ist in den meisten Fällen sicher meine Berufs- und Lebenserfahrung. Die Gefahr dabei ist jedoch, dass meine Erfahrungen nicht repräsentativ sind und dass ich mich auf meine eigenen Vorurteile abstütze. Zum Beispiel sind nicht alle Buchhalter trockene Erbsenzähler und nicht alle Piloten sind coole Typen. Oder es sind Zielgruppen, mit denen ich bisher kaum Kontakt hatte, und ich weiss deshalb nicht, wie diese Leute denken und handeln. Da hilft nur eines: Ich besuche stellvertretend zwei oder drei Personen aus der Zielgruppe für ein Interview. Das können zum Beispiel bestehende oder potentielle Kunden meines Auftraggebers sein. Dabei ist nicht nur das Gespräch aufschlussreich. Auch die Möbel im Büro, die Bücher im Regal, die Zeitschrift auf dem Pult und die Kleidung meines Interviewpartners sind Hinweise, die ich zur Kenntnis nehme. All diese Eindrücke sind weitaus wertvoller als alle statistischen Auswertungen.

Empathie ist also nicht bloss eine Eigenschaft, die man entweder hat oder auch nicht. Vielmehr ist es die Bereitschaft, sich auf andere Menschen einzulassen und sich in ihre Welt hineinzufühlen. Um gute Liebesbriefe schreiben zu können, muss man die Menschen mögen, denen man schreibt.

 

Fredy Obrecht