Die Gretafrage

Die Gretafrage

Die Gretafrage

In Goethes Drama «Faust» stellt das jugendliche Gretchen dem älteren Wissenschaftler Faust eine unangenehme Frage, die sogenannte Gretchenfrage. Parallelen zu Greta sind offensichtlich. Auf der einen Seite das aufmüpfige, unangenehme und intelligente Mädchen – auf der anderen Seite die etablierte Gesellschaft, die durch die Fragen und Forderungen in Bedrängnis gerät.

Greta polarisiert: Die jugendliche Gretchen-Fraktion findet in ihr eine Jeanne d’Arc der Klimadebatte. Die Faust-Gruppe vermutet sie fremdgesteuert und empfindet sie als unsympathisch und gefährlich. Alle Versuche, die junge Schwedin vom Sockel zu stossen oder für die eigenen Zwecke vor den Karren zu spannen, scheiterten. Egal, welche Emotionen Greta hervorzurufen verstand, sie hat nicht nur die hiesigen Nationalratswahlen beeinflusst, sie hat auch die Weltpolitik verändert. Seit Proteste junger Leute derart für Aufruhr sorgten, ist ein halbes Jahrhundert vergangen. Im Gegensatz zu den Studentenunruhen der 68er-Bewegung fliegen heute allerdings keine Pflastersteine.

Als Kommunikationsspezialist interessiert mich natürlich, warum diese Greta-Schulstreik-Bewegung so erfolgreich ist. Ob da Interessensgruppierungen und PR-Profis im Hintergrund operieren, ist unerheblich, denn die Gegenseite hat die stärkere Lobby, ebenso erfahrene Kommunikations­spezialisten und viel mehr Geld zur Verfügung. Hier also mein Versuch, das Greta-Phänomen zu sezieren:

Sinnsuche

Es geht uns gut; in der Maslowschen Bedürfnispyramide sind wir im oberen Bereich. Unsere Grundbedürfnisse sind weitgehend gesichert, also suchen wir nach etwas, das unserem Leben Sinn verleiht. Für das Überleben der Menschheit zu kämpfen, ist als sinnvolles Ziel kaum mehr zu übertreffen.

Keep it simple

Von populistischen Politikern haben wir gelernt: einfache, unvollständige Botschaften sind gegenüber komplizierten, erklärungsbedürftigen Strategien im Vorteil. Greta formuliert keine Rezepte, sondern fordert die Gesellschaft der Erwachsenen auf, nach Lösungen zu suchen: Ein genialer Schachzug.

Das Gesicht

Eine erfolgreiche Bewegung braucht ein Gesicht, eine Identifikationsfigur. Kaum jemand erinnert sich an die kubanische Revolution, das Bild von Che Guevara hingegen kennt jeder. Greta ist kein süsses, nettes Mädchen. Aber sie wirkt authentisch und intelligent und sie hat – besonders wichtig – Wiedererkennungswert.

Das schlechte Feindbild

Wer gegen ein 17-jähriges Mädchen mit Asperger-Syndrom ankämpft, erntet keine Lorbeeren. Für ihre Bewunderer ist Greta gerade wegen ihrer Defizite und ihrer Direktheit eine vertrauenswürdige Identifikationsfigur. Käme sie aus China oder den USA, wäre sie politisch leichter angreifbar. Aber sie ist aus Schweden, einem liberalen, sozialen und demokratischen Land in Europa.

Konklusion

Greta hat mit ihren weltweiten Schulstreiks Geschichte geschrieben. Es ist ihr gelungen, die Jugend zu mobilisieren. So etwas hat es seit Ende der Sechzigerjahre nicht mehr gegeben. Jahrzehntelang war die Jugend kaum an Politik interessiert. Greta hat das geändert. Auch die Wirtschaft sollte sich bei ihr bedanken. Die Umstellung auf innovative und klimaneutrale Produkte und Techniken dürfte einen gewaltigen Investitionsschub auslösen. Besonders dankbar sind sicher die grünen Parteien. Schade nur, dass sie sich bei ihren Rezepten bisher fantasielos zeigen. Ausser einer CO2-Strafsteuer auf Flugtickets ist ihnen bislang wenig Überzeugendes eingefallen.

 

Fredy Obrecht